Märchen: Die Geschichte von der dürren, der weißen und der schwarzen NiesteEs lebte einmal ein Bauer. Der hat irgendwo im Kaufunger Wald ein kleines Gütlein gehabt. Seine Frau war ihm beim vierten Kind, einem Knaben, im Wochenbett gestorben. Nun stand er allein da mit drei Mädchen und einem Buben denen die Mutter gar so sehr fehlte.

Da haben sich die drei Schwestern des kleinen Jungen angenommen und haben ihn großgezogen und gar nicht und niemals an sich selbst gedacht, nur immer daran, dass es dem Bruder gut gehen sollte.

So ist die Zeit vergangen. Als die Mädchen heiratsfähig waren, brachte der Vater einen Mann ins Haus der die älteste Tochter heiraten sollte.

Sobald dies die drei Schwestern hörten, wurden sie sehr traurig. Plötzlich merkten sie, dass sie einander so lieb gewonnen hatten, dass sie sich gar nicht denken konnten, wie es wäre, einmal von einander getrennt zu sein.

Weil nun aber der Vater darauf bestand, dass die heiraten sollten, waren sie gar nicht mehr fröhlich, sondern weinten immerzu. Den ganzen Tag lang und in der Nacht auch noch. Davon wurde die älteste Schwester so dünn und mager, dass der Bräutigam eines Tages sagte: „Die will ich nicht. Die ist mir zu dürr.“

Die mittlere Schwester sollte nun den Mann heiraten.

Als sie davon hörte, grämte sie sich darüber so sehr, dass ihr Haar über Nacht ganz weiß wurde.

Der Mann wollte nun auch diese Schwester nicht und meinte, die jüngste sei gerade die rechte für ihn.

Doch da malte sich die jüngste Schwester ihr Gesicht mit Ruß aus dem Küchenofen ganz schwarz an und sagte, sie wolle von nun an nur noch so schwarz umhergehen, wenn sie ihre Schwestern verlassen müsste.

Und alle drei Mädchen weinten und weinten, so dass der Bräutigam eines Tages seinen Hut nahm und auf Nimmerwiedersehen das Bauerngütlein verließ.

Der Vater aber, voll Ärger über seine weinenden Töchter, sagte böse: „Ich wünschte, ihr wäret drei Quellen. Da wären eure Tränen doch wenigstens zu etwas nütze.“

Kaum hatte der Vater diese Worte gesagt, da waren die Töchter vor seinen Augen verschwunden und nimmer auffindbar.

Der Verlust der Töchter schmerzte den Bauern sehr. Er schalt sich einen alten, bösen Narren, dass er sie verwünscht hatte. Aber alle seine Trauer und seine Selbstvorwürfe nützten nichts.

Auch der Sohn des Bauern, der die Schwester genau so lieb gehabt hatte wie sie ihn, wollte sie gern zurückhaben.

Eines Tages sagte er zu seinem Vater: „Vater, ich will meine Schwester suche gehen.“

Ach, wie jammerte da der Vater, dass der Sohn ihn auch noch verlassen wollte. Aber der Junge behaarte auf seinem Vorhaben. Da gab ihm der Bauer so viel Geld, wie er entbehren konnte, auch eine gute Wegzehrung und segnete den Sohn.

Ja, und da wanderte der Junge los. Er ging einen ganzen Tag lang. Immer nach Osten.

Als der Abend kam, setzte er sich auf einen Baumstamm, der am Wege lag, und holte aus seinem Proviantbeutel ein Stück Brot. Er aß es mit großem Appetit. Da kam plötzlich eine alte Frau des Weges. Sie sah müde und hungrig aus. Na, und weil der Lorenzmeier, so hieß der Junge, genug in seinem Beutel zu essen hatte, lud er die alte Frau ein, sich zu ihm zu setzen, und als sie dies getan hatte, gab er ihr ein Stück von seinem Brot und schnitt auch etwas von dem Speck aus seinem Vorratsbeutel ab, hatten ihn doch seine Schwestern gelehrt, mitleidig und hilfsbereit gegen Arme zu sein.

Als sie nun aßen, die Waldfrau, warum er auf der Wanderschaft sei und fragte, ob sie nicht wüsste, wo er seine Schwester finden könnte.

Frau Holle, niemand anderes war die alte Waldfrau, hatte Gefallen an dem Jungen gefunden. Sie sagte, sie wüsste schon, was mit seinen Schwestern geschehen sei.

Und dann erzählte sie dem Lorenzmeier, dass vor ein paar Tagen drei neue Quellen im Wald entstanden wären. Die plätscherten munter über Gestrüpp und Gestein, hinunter ins Tal, wo sie sich zu einem Bach vereinten, um dann still und zufrieden durch den Wald zu fließen.

„Meinst Du, dass das meine Schwestern sind?“ fragte der Lorenzmeier.

„Ja, das meine ich“, gab die alte Frau zur Antwort.

Er wollte wissen, ob denn die Schwestern für immer Quellen bleiben müssten oder ob es eine Möglichkeit gäbe, sie zu erlösen.

„Die gäbe es schon“, sagte die alte Frau. Natürlich wollte der Lorenzmeier nun genau wissen, was da zu tun sei.

„Nicht viel", antwortete ihm die alte Frau. „Du  musst nur dreimal drei Monde lang in jeder Vollmondnacht hierher an diesen Platz kommen und abwarten, was geschieht. Aber Du darfst in diesen Nächten, solange der Mond leuchtet, kein Wort reden. Nicht ein einziges.

Darfst auch mit niemanden mitgehen, und wenn man dich noch so sehr darum bittet. Auch  nicht, wenn die Bittenden diene Schwestern sind. Denn erst nach drei Monden sind sie von der Verwünschung frei und können selbst entscheiden, ob sie wieder zu ihren Vater zurückkehren oder im Wald bleiben wollen.“

„Und was muss ich sonst noch tun", fragte der Lorenzmeier, dem diese Aufgabe gar so leicht dünkte.

„Nichts anderes, als was du bisher auch getan hast", erwiderte die alte Frau. „Geh heim zu deinem Vater und hilf ihm in der Wirtschaft. Er braucht dich.“

Ach, wie froh war da der Lorenzmeier. Singen und lachen hätte er wollen und der Waldfrau einen Kuss auf die Wange geben. Doch als er sich nach ihr umsah, war der Platz an seiner Seite leer.

Das kam dem Lorenzmeier seltsam vor. Aber er zweifelte nicht einen Augenblick an dem, was ihm die Waldfrau gesagt hatte. Fröhlich nahm er seinen Beutel, schwang ihn auf den Rücken und wanderte heimwärts.

Wieder zu Hause, erzählte er dem Vater, was er erlebt hatte. Mit dem Vater davon zu reden hatte ihm die Waldfrau ja nicht verboten.

Und weil nun Hoffnung auf die Heimkehr der Schwestern sein Herz froh machte, ging ihm alle Arbeit leicht von der Hand.

Dann kann die erste der neun Vollmondnächte, die er im Wald verbringen sollte.

Er machte sich auf den Weg, fand auch bald den Platz, wo er der Waldfrau begegnet war. Auch der Baustamm lag noch so da, wie er ihn in Erinnerung hatte. Er setzte sich darauf und wartete. Ein bisschen unheimlich war ihm schon zu Mute.

Als der Mond hell und voll am Himmel stand, spürte er plötzlich, dass eine Hand ihn berührte. Er sah sich um und sah seine älteste Schwester neben sich stehen. Die tat gar lieb mit ihm, setzte sich zu ihm und fragte, wie es daheim ginge und ob er sie sehr vermisse.

Der Lorenzmeier hätte am liebsten von daheim erzählt. Aber er dachte an die Worte der Waldfrau und schwieg.

Gewiss, er hätte seine Schwester am liebsten umarmt, aber auch das getraute er sich nicht, denn er dachte, dass ihm dann vielleicht doch ein Wort über die Lippen käme.

Die Nacht war voller Frühling. Roch nach blühenden Weidenkätzchen und frischem, grünen Laub. Die Düfte machten den Lorenzmeier ganz schwach. Aber er hielt durch.

Als der Morgen dämmerte, küsste ihn die Schwester und ging in den Wald zurück. Er sah ihr traurig nach, blieb aber sitzen, bis er auch nicht ein Zipfelchen mehr von ihr sah.

Da brach der Morgen an und der Lorenzmeier hatte die erste Vollmondnacht von dem dreimal dreien überstanden. Er ging nun wieder heim.

Die beiden nächsten Vollmondnächte verliefen nicht anders. In der vierten Vollmondnacht aber stand neben der ältesten auch die Nächstgeborene vor ihm. Ach, wie freut er sich da. Beinahe hätte er vor lauter Freude vergessen, dass er ja nicht reden durfte, um sie zu erlösen.

Auch diese Vollmondnächte überstand der Lorenzmeier, ohne zu reden. Und auch die beiden nächsten. Nun waren schon zwei mal drei Vollmondnächte vorüber.

In der siebenten Vollmondnacht besuchten ihn alle drei Schwestern. Das Jahr war schon dem Winter nahe und schwerer als in den ersten Vollmondnächten fiel es dem Lorenzmeier, zu schweigen. Dachte er doch daran, dass bald Schnee und Eis das Land gefangen halten würden und wie sehr kalt es den Schwestern sein würde.

Aber er blieb standhaft. Er redete kein einziges Wort.

Auch als die jüngste Schwester zu weinen anfing und sagte, er hätte sie nicht mehr lieb, weil er so stumm sei, blickte er sie nur traurig an und redete nicht.

So verging auch diese Nacht. Und die nächste. Und dann kam die letzte der drei mal drei Vollmondnächte und wieder ging der Lorenzmeier zu der Stelle im Wald, wo ihm die Waldfrau begegnet war. Seine Schwestern warteten schon auf ihn. Und endlich, endlich, als der Vollmond sein Licht gelöscht hatte und die Dämmerung des Morgens durch die Bäume stieg, durfte der Lorenzmeier reden.

Und er redete und redete. Erzählte von der Waldfrau und dass die Schwestern nun alle drei erlöst wären und mit ihm heimgehen könnten. Da wurden die Schwestern still, sahen den Lorenzmeier liebevoll an und erklärten ihm dann, dass sie nicht mehr mit ihm nach Hause wollten. Sie hätten sich an das Leben im Wald gewöhnt und es sei ihnen lieb geworden, dass sie sich anderes nicht mehr wünschten.

Aber der Lorenzmeier solle den Vater grüßen. Nein, sie

seien dem Vater nicht böse. Aber heim, nein, heim wollten sie nicht mehr.

Was sollen sie noch dort? Sie würden dann wieder Menschen sein, würden als Menschen alt werden und vielleicht bestünde der Vater eines Tages doch darauf, dass sie heiraten und sich trennen müssten. Nein, nein, sie wollten als Quellen im bleiben.

Gewiss, sie weinten und waren traurig, die drei Schwestern, als sie von ihrem Bruder Abschied nahmen. Und auch der Lorenzmeier weinte und wollte nicht wahrhaben, dass sie sich gegen ihn und den Vater entscheiden wollten, nun, da er sie erlöst hatte.

Aber als sie dann endgültig voneinander Abschied nahmen und der Lorenzmeier seine Schwestern zum letzten Male als Menschen sah, da war ihm, als hätten sie doch das Richtige für sich gewählt.

Der Vater war sehr traurig, als er von dem Sohn dorthin, wo der Bach, der die Schwestern vereinte, aus dem Wald kam.

Dort baute er für den Sohn ein Haus. Er selbst aber zog on eine Hütte am Ufer des Baches, um seinen Töchtern nahe zu sein.

Was weiter geschah, ist bald erzählt. Der Lorenzmeier hat eines Tages geheiratet. Seine Ehe ist sehr glücklich gewesen. Sie haben neun Kinder miteinander gehabt.

Und alle sind gute und tüchtige Leute geworden.

Nun ist die Geschichte aus. Und sie ist so wahr, wie es wahr ist, dass mir Annemarie Ahlborn von der dürren, der weißen und der schwarzen Nieste erzählt hat, den drei Quellflüssen der Nieste, die bei Kassel in die Fulda mündet.

Mit freundlicher Genehmigung des Wartberg Verlag GmbH & Co. KG.
Aus dem Buch "Der Zauberstrauch" - Märchen und Sagen aus dem Meißnerland, Autorin: Ilse Beichhold

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